Musik-Karawane
13.9.2013, 10:00 Uhr
Quer über den Balkan – immer der Musik nach
13.9.2013, 10:00 Uhr
4200 Kilometer haben die Mitglieder der Musikkarawane über den Balkan zurückgelegt: Sie erlebten Musikorgien in Slowenien, bosnische Improvisationskunst und spielten mit Roma-Musikern auf dem Kosovo. Nun erzählt Initiantin Ariane Rufino dos Santons episodenhaft von ihrer Reise mit dem Instrument unter dem Arm und der Musik im Ohr.
Von Ariane Rufino dos Santos
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Wir haben uns vorgenommen, Freude durch Musik und Gesang zu vermitteln und durch eine Brücke aus Liedern den Kontakt von Herz zu Herz zu suchen. Dorthin zu reisen, wo die Migranten und Migrantinnen in der Schweiz ihre Ferien verbringen. Wir wollten in ihren Herkunftsländern einen Einblick erhalten, wie sie wirklich sind – ohne Vorurteile und Klischees. Mit diesem Text wollen wir unsere Einblicke in eine aussergewöhnliche Musikreise in die westlichen Balkanländer teilen. Unsere Reise startet in Slowenien, genauer am Festival Histeria.
Gračišće in Slowenien – 18. und 19. Juli 2013: Die Musikorgie
Am Festival Histeria, im Westen Sloweniens gelegen, ist die Musik-Karawane eine von rund 40 Formationen, die an zahlreichen verwunschenen Spielstätten in der wunderschönen Landschaft auftreten. Alle Gruppen treten ohne Bezahlung, gegen Essens- und Getränkegutscheine auf, und dieser nichtkommerzielle Charakter ist es, der den freiheitlichen Zauber des Ganzen ausmacht. Kein einziges Sponsorenwerbeschild, welche Erholung! Am Eingang in der Mitte des Weges ein aufgestellter Jutesack mit einem Holzschild: «Throw a stone and leave your Ego here.» Ich suche mir einen dicken Brocken aus…
Zum Abschluss geht das zweistündige internationale Konzert von rund 80 Musikerinnen und Musikern über die Hauptbühne: Dutzende Streicherinnen, Bläser, Saiten und Akkordeone gehen auf in einem ekstatischen Ganzen: Von österreichischem Jodel bis zu spiritueller Sufimusik hat alles Platz – eine Musikorgie, wie ich sie noch nie erlebt habe.
Velika Kladuša in Bosnien-Herzegowina – 22. und 23. Juli: Bosnische Gastfreundlichkeit und Improvisationskunst
Wir sind zu Besuch bei meiner alten Arbeitskollegin Jasmina, die uns trotz Ramadan gastfreundlich empfängt und die siebenköpfige Invasion ihres Hauses mit stoischer Ruhe über sich ergehen lässt. Ihr Bruder überrascht uns am kommenden Morgen mit einer Riesenladung Gemüse, Früchte und Brot, die er vor der Haustüre deponiert. Er ist Frauenarzt und hat seine Praxis nebenan, seine Tochter lebt in Deutschland. Immer wieder behandelt er Frauen, die statt Geld Gartenprodukte und Selbstgekochtes mitbringen – für ihn als alleinlebender Single ideal.
Schon bei der Einfahrt in die Kleinstadt haben wir die Banner bemerkt, auf denen das Wort «culture» ins Auge sticht. Damit ist ein mehrwöchiges Kulturfestival im Stadtpark gemeint. Bald sitzen wir im Büro des örtlichen Kulturministers, der alle Hebel in Bewegung setzt, damit wir am Abend auftreten können. Das Radio wird informiert, die Mailingliste aktiviert, das OK des Festivals zusammengetrommelt und abends um sieben Uhr kanns losgehen. Vor etwa hundert Leuten spielen wir unser Konzert, das Musik aus aller Welt und ein paar Mitsinglieder enthält, und gewinnen rasch die Herzen des neugierigen Publikums.
Die Bitte zum Schluss, es möge sich jemand finden, um uns ein bosnisches Lied beizubringen, beschert uns viele Kontakte, Gespräche und den nächtlichen Besuch einer Musiklehrerin, die uns das traditionelle Liebeslied vom «Roten Fez» lehrt und einen guten Einblick in ein Frauenleben als Unverheiratete in der bosnischen Gesellschaft gibt. Das Lied wird uns auf der Reise begleiten und ist auch in andern Balkanländern beliebt. Wer sich das Lied anhören möchte, hier eine Version der Folksängerin Hanka Paldum:
Višegrad in der Serbischen Republik – 27. Juli: An der berühmten Brücke über die Drina
Die berühmte Brücke über den Fluss Drina hat durch Emir Kusturicas angekündigten Film Furore gemacht. Sie dient seit Jahrhunderten dem Austausch zwischen den beiden Ortschaften an den gegenüberliegenden Flussufern und hat in der Mitte eine U-förmig ausgebuchtete Steinbank. Durch unseren Reiseführer erfahren wir von dem hier stattgefundenen Kriegsgräuel im Bosnienkrieg, als die damals weit weniger zahlreichen serbischen Bewohner die muslimische Bevölkerung blutig vertrieben, ihre Frauen systematisch vergewaltigten und die Toten von der Brücke in den Fluss warfen. Schaudernd nehmen wir ein Bad flussaufwärts. Wir lassen die Schamaninnen unserer Gruppe mit intensivem Trommelspiel wirken und die spürbar schwere Stimmung etwas zerstreuen. Die Ortschaft ist heute praktisch ausschliesslich von bosnischen Serben bewohnt, auch wenn man aus politischer Korrektheit eine kleine Moschee wiederaufgebaut hat. Unübersehbar ist demgegenüber die völlig überdimensionierte, brandneue orthodoxe Kathedrale auf einer neu aufgeschütteten Insel im Fluss, die offenbar von Kusturica finanziert wurde.
Wir machen uns abends zu viert mit Trommel und Handorgel auf, um die Brücke zu begehen und sind, als wir näherkommen, überrumpelt vom grossen Menschengedränge am Brückenkopf, ein reges Flanieren junger Menschen mit überlauter Beschallung durch Trancemusik über die Lautsprecher einer Bar. Trotzdem wagen wir uns vor und haben Glück: Das Steinsofa auf der Mitte der 500-jährigen Brücke ist frei. Bald beginnen wir zu singen, Flusslieder, Friedenslieder, was uns gerade einfällt. Frauen und Kinder gesellen sich dazu, hören neugierig zu und geniessen die Stimmung, singen eigene Lieder, die ich zum Teil begleite. Die Jugendlichen kommen mit Gitarre, spielen Coversongs, die auch wir kennen – Musik verbindet uns im nächtlichen Halbdunkel dieser Brücke und überwindet Zeit und Raum, Gewalt und Vorurteile.
Prijepolje in Montenegro – 28. Juli: 37 Grad im Schatten und der Wunsch nach Abkühlung
Nach einer fantastischen Fahrt auf einer kleinen Passtrasse ohne jeglichen Verkehr erreichen wir in Montenegro den Ort Prijepolje. Seit Stunden sind wir vergeblich auf der Suche nach einem Badeort, denn wir nehmen uns den Rat zu Herzen, nur dort zu baden, wo man auch die lokale Bevölkerung antrifft. Dies ist endlich der Fall, als wir von einer Brücke aus eine riesige badende Menge an einem felsigen Stück Naturfluss sehen und sofort zum kühlenden Nass streben – bei 37 Grad im Schatten pure Notwendigkeit. Es handelt sich um eine Fluss-Disko, die dröhnende Beschallung geht von einem hohen Fels aus, wo sich die DJ’s installiert haben. Unten wird Volleyball gespielt, viele junge Männer und ein paar wenige Frauen geniessen den Sonntag, baden und trinken, was das Zeug hält. Wir suchen eine Ecke zum Baden auf und bald schon ist der Kontakt zum einen DJ hergestellt, der nach Schilderung unseres Musikprojekts freudig erregt herumtelefoniert und uns später abholt, um in der nahen Ausgehmeile im Kaffeehaus eines Bekannten ein spontanes Livekonzert zu geben.
Nicht nur der dortige Lärmpegel, sondern auch die Angst des Besitzers vor dem prüfenden Kontrollbesuch des Bewilligungsbeamten bereiten unserem Konzert ein frühzeitiges Ende. Szenenwechsel, eine Stunde später: Wir sitzen am inzwischen menschenleeren nächtlichen Fluss, auf einer ausgebreiteten Decke mit ein paar Einheimischen, die der begeisterte DJ zusammengetrommelt hat, und singen endlos Lieder aus allen Kulturen, mit jungen Leuten, die selten oder nie singen und erstaunt sind, wieviele Lieder aus der Magie des Augenblicks heraus kommen.
Gračanica in der Republik Kosovo – 31. Juli: Feuertaupfe für ein neues Hotels
Die von unserer Assistentin Selvete – einer kosovarischen Rückkehrerin mit Schweizer Pass – organisierte Begegnung mit jungen Roma-Musikern führt zu einem kurzfristig angesagten gemeinsamen Konzert im Hotel Gračanica nahe Pristina am Vorabend des 1. August. Die bereits im Vorfeld kontaktierte Schweizer Botschaft kommt mit einigen Mitarbeitenden, zudem weitere Schweizer und Kosovaren, die früher in der Schweiz lebten. Dabei sind auch Familien der Roma-Musiker, die tüchtig Stimmung machen, tanzen und applaudieren. Das vor kurzem neu eröffnete Hotel in einem Vorort wird von einem Zürcher gemeinsam mit zwei einheimischen Partnern geführt und bietet einen hohen Standard an, den wir nach einigen Strapazen liebend gerne für zwei Tage geniessen.
Der Hotelbetrieb bietet verschiedenen Romas Arbeitsstellen an, was hier sehr ungewöhnlich ist und von den Albanern kritisiert wird. Der Schweizer räumt mit dem Vorurteil auf, die Roma könnten nicht arbeiten. Unser Konzert ist das Erste im Hotel und wird mit einer Gratisnacht, interessanten Kontakten und vielen Komplimenten belohnt.
Reisefazit: Ein Pilotprojekt als Lernfeld
Das vom Lotteriefonds BL und der Stiftung Dialog geförderte Musikprojekt als Brückenbau zu den Herkunftsländern unserer eingewanderten Bevölkerung hat viele Kontakte geknüpft. Dass Musik die Menschen sofort erreicht und Freundschaften innert Kürze ermöglicht, war ein Riesenaufsteller. Auch Strassenmusik mit ungewöhnlichen Instrumenten an Orten, wo mangels Geld kaum je sowas stattfindet, fand ein starkes Echo und bewegte die Zuschauenden sehr. Die unglaubliche Gastfreundschaft der von uns besuchten Völker beschämt uns vor allem bei der Rückkehr in unseren griesgrämigen Alltag im Schweizer Honigtopf. Der Blick auf unsere bosnischen, serbischen und kosovarischen Mitbürgerinnen und Mitbürger hat sich grundlegend verändert. Schon im Vorfeld war die freudige Überraschung spürbar, wenn man einem Kosovaren erzählte, man mache Ferien in seinem Land. Sein Bild der Heimat konnte sich dadurch auch verändern. Nicht nur Armenhaus, sondern Feriendestination zu sein, nicht nur Abwehr, sondern Interesse zu spüren, das gibt ihnen und uns eine neue Sichtweise. Deshalb zum Schluss ein Tipp: Macht euch auf, die neue Feriendestination heisst Bosnien und Kosovo!
Die Musik-Karawane live: Am Sonntag, 15. September, gibt es eine öffentliche Informationsveranstaltung mit Konzert von 11 – 14 Uhr in Sissach. Der Ort wird über die Website von Ariane Rufino noch bekanntgegeben.